
Nach der Heiligsprechung bleibt nur noch die Ikone übrig. Die Erinnerung an ihre menschlichen Züge verblasst hinter dem ganzen Pomp.
Durch die Heiligsprechung dürfte das Symbolische ihres Lebens noch stärker in den Vordergrund rücken: Mutter Teresa, Ikone und Lichtgestalt, ein Vorbild der Barmherzigkeit und der selbstlosen Nächstenliebe. Dieses Bild haben Millionen Bewunderer auf allen Kontinenten 19 Jahre nach ihrem Tod verinnerlicht. Der Heiligenkult wird sie nun von allem Irdischen entrücken – hoch oben auf dem Sockel verklärt sich ihr Bild. Was für ein Mensch sie war, wird angesichts solcher Strahlkraft nicht mehr leicht zu erfassen sein. Ihre menschlichen Züge verschwinden zunehmend hinter all der gefeierten Heiligkeit. Aber jedes Leben hinterlässt Spuren. Und nicht immer passen sie ins Bild.
«Nur der Glaube konnte ihr so viel Kraft geben»
In Debatten über Mutter Teresa tauchen manche Fragen immer wieder auf. Vor allem: Woher nahm diese Frau ihre Kraft? Erforderte ihr Wirken nicht ein unerschütterliches Gottvertrauen? Wie sonst hätte sie ihre Existenz so kompromisslos in den Dienst der Ärmsten stellen können? Wie sonst hätte sie die Arbeit mit all den Kranken, Verlassenen und Sterbenden im Moloch Kalkutta durchgestanden? «Nur der Glaube konnte ihr so viel Kraft geben», sagt der Inder Navin Chawla, der eine Biografie von Mutter Teresa verfasst hat. An dieser Einschätzung lässt er nicht rütteln, auch wenn es doch diese Briefe der Ordensfrau gibt. Schon vor einem Jahrzehnt erregten sie Aufsehen. Denn sie erschütterten die Vorstellungen von ihr als einer seelisch gefestigten Frau.
Sehr private Briefe aus der Feder der Ordensfrau waren aufgetaucht, Schriften, die sie selbst nach ihrem Tod vernichtet haben wollte, die aber 2007 dann doch an die Öffentlichkeit gelangten, mit dem Segen des Vatikans. Statt Vertrauen spiegeln sich in diesen Bekenntnissen Zweifel wider, manchmal sogar bittere Verzweiflung: «Es wird mir gesagt, dass Gott mich liebt, doch ist die Realität der Dunkelheit, der Kälte und der Leere so überwältigend, dass nichts davon meine Seele berührt.» So schrieb sie einmal im Jahr 1959. Und das Gefühl von Dunkelheit und Verlassenheit deutet sich noch öfters an in diesen Schriften an einen vertrauten Seelsorger.
Briefe, die hätten vernichtet werden sollen, zeigen eine verzweifelte Frau.
Biograf Chawla war überrascht, als er von den Briefen erfuhr. In einem Gespräch kurz vor der Heiligsprechung erzählt er nun, dass er von solchen Gedanken bei der Ordensfrau nie etwas gespürt habe. «Und ich habe viele Hundert Stunden mit Mutter Teresa verbracht.» Kritiker deuteten die Bekenntnisse allerdings als Beleg für den Vorwurf, sie habe ihre fröhliche Frömmigkeit nur vorgetäuscht, ihr Gesicht verschleiert, ja eine Maske getragen. Autor Chawla hält noch einmal dagegen: «Kein Mensch kann seinen Glauben ein ganzes Leben lang vorgaukeln.» Und gerade Momente des Zweifelns hätten ihren Glauben letztlich stärker gemacht und sie zu ihrer selbstlosen Arbeit befähigt.
Wie immer man diese Zeugnisse einschätzt, eines ist kaum zu bestreiten: Das Leben von Mutter Teresa war nicht frei von Momenten seelischen Leids, von inneren Zweifeln und zahlreichen Widersprüchen. Aber wie hätte es auch anders sein können? Schliesslich war die nun zur Heiligen erhobene Frau auch mal Mensch. Was Mutter Teresa geschaffen hat, wird nicht nur in Kalkutta, sondern auch in anderen Teilen Indiens gewürdigt. Christen sind auf dem Subkontinent eine Minderheit, doch der vorherrschende Hinduismus gilt in seiner moderaten Ausprägung als eine Religion, die vieles einbezieht und wenig ausschliesst. Dazu passt dann auch ein Satz von Mutter Teresa, die einmal sagte: «Ich liebe alle Religionen.»
«Ich liebe alle Religionen.»
Zur Feier in Rom wird eine hochrangige indische Delegation anreisen. Premier Narendra Modi sagte: «Als Inder sind wir stolz auf die Heiligsprechung.» Die extreme Hindu-Rechte dürfte dem allerdings kaum zustimmen, aus ihren Reihen waren immer wieder giftige Attacken zu vernehmen, weil sie ihr vorwerfen, sie hätte sich nur um die Armen gekümmert, um sie so leichter zum Christentum zu bekehren. Seitdem Modi regiert, fühlen sich Hardliner ermuntert, ein schärferes hindu-nationalistisches Programm voranzutreiben, Hindus sollten demnach ihre Dominanz zementieren und Minderheiten müssten sich unterordnen. Die Vorwürfe gegen Mutter Teresa, die aus solchen Kreisen kommen, sind nicht neu und wurden mehr oder weniger polemisch auch von anderer Seite schon erhoben.
Hilfe, um zu bekehren?
Auch gab es immer wieder Kritiker, die in ihrer Arbeit einen zweifelhaften «Leidenskult» zu erkennen glaubten, gar eine Besessenheit vom Tod. Auch die Zustände in ihren Häusern wurde skeptisch betrachtet, die medizinische Versorgung sei mangelhaft gewesen und der Umgang mit Geld intransparent. Für die Anhänger Mutter Teresas waren dies nie überzeugende Argumente, zumal sie oft aus der Distanz entworfen wurden, ohne Kenntnis der lokalen Verhältnisse.
Die Bilder von der «Heiligen in der Gosse» haben auch die Vorstellungen von der Armut in Asien geprägt.
Hilfe, um zu bekehren? Vertraute der Ordensfrau haben dieses mutmassliche Motiv vehement zurückgewiesen. Schwester Blessila, die man telefonisch in Kalkutta erreicht, gehört zu jenen, die das Werk von Mutter Teresa fortsetzen. Ihre Erinnerung? «Sie hat in jedem Menschen ein Kind Gottes gesehen. Und so hat sie auch jeden behandelt.» Das Waisenkind in der Gosse, den armen Alten, der einsam den Tod erwartete. Den Kranken, den alle schon aufgegeben hatten. Ob es Christen, Hindus oder Moslems waren, habe für sie keine Rolle gespielt, das sagen ihre Wegbegleiter.
Die Bilder von der «Heiligen in der Gosse», die jahrzehntelang um die Welt gingen – sie haben auch die Vorstellungen von der Armut in Asien geprägt. Kalkutta, der Ort ihres Wirkens, wurde zum Inbegriff dieses Elends. Nicht zu übersehen ist aber auch, dass sich doch viele Inder gegen das Elend in ihrem Land stemmen. Manche sind womöglich inspiriert worden durch Menschen wie Mutter Teresa, andere aber werden eher von politischen Gedanken getrieben, von sozial-revolutionären Ideen oder Vorstellungen einer neuen globalen Gerechtigkeit. Sie haben oft das Gefühl, dass barmherziges Samaritertum nicht ausreicht, um die Massen der Welt aus dem Elend zu ziehen.
(Tages-Anzeiger)