Respekt für Merkel: Sie ließ Flüchtlinge ins Land, denen sonst in Europa niemand helfen wollte
Ein Kommentar von Lothar Keller
Am 4. September vorigen Jahres hat Angela Merkel etwas Unerhörtes getan: Sie nahm die europäischen Werte ernst, die sonst nur in Feiertagsreden hochgehalten werden: Menschenrechte, Verantwortung, Toleranz. Sie ließ Flüchtlinge ins Land, denen sonst in Europa niemand helfen wollte. Für diese Entscheidung hat Merkel mehr Respekt verdient, als ihr in Europa und auch von vielen Deutschen entgegengebracht wird. Denn wenn hunderttausende Kriegsflüchtlinge vor den eigenen Grenzen stranden, kann Europa sich nicht einfach für unzuständig erklären.
Wer gegen Menschen demonstriert, die er gar nicht kennt, verrät die die deutschen und europäischen Werte
Politik und Bürokratie waren in den ersten Monaten überfordert von der großen Zahl der Menschen, die zu uns kamen. Angela Merkel hat das nicht vorausgesehen, und das war ihr erster großer Fehler. Der zweite Fehler war, die Hilfsbereitschaft der anderen europäischen Staaten zu überschätzen. Versagt aber haben jene, die nicht bereit sind, sich dieser Herausforderung zu stellen: Die Staaten vor allem in Osteuropa, die nicht einmal einen kleinen Teil der Last tragen wollen. Und jene in Deutschland, die nur ausgrenzen und Angst schüren, statt anzupacken.
Wer zu Hause Hasskommentare schreibt oder auf der Straße gegen Menschen demonstriert, die er gar nicht kennt, verrät die die deutschen und europäischen Werte. Und er trägt nichts zur Bewältigung der Probleme bei. Diese Probleme und die Risiken der Zuwanderung wurden zunächst von vielen unterschätzt, auch von Journalisten. Nicht alle Flüchtlinge sind Ärzte und Ingenieure. Aber noch absurder ist es, sie alle für Gewalttäter und Terroristen zu halten. Die meisten Menschen, die in Europa Schutz suchen, sind selber vor Terror und Krieg geflohen. Ihnen zu helfen ist eine humanitäre Pflicht.
Die Sorge, dass einzelne Flüchtlinge sich radikalisieren und morden, ist berechtigt. Die Terroranschläge in Belgien und Frankreich zeigen aber auch: Die größte Gefahr geht von denen aus, die schon lange bei uns leben und hier aufgewachsen sind. Es gibt derzeit keine Sicherheit vor islamistischem Terror, es gäbe sie auch ohne Flüchtlinge nicht.
Deutschland kann stolz auf das Geleistete sein
Hunderttausende Freiwillige tun seit Monaten im Stillen, was jetzt nötig ist: Sie packen an, wo der Staat überfordert ist. Sie geben Deutschkurse und Sportunterricht, helfen bei Behördengängen. Und auch Politik und Behörden haben Fehler korrigiert; die Zuwanderung aus Balkanstaaten wurde praktisch gestoppt, die Registrierung der Flüchtlinge funktioniert jetzt besser. Die Flüchtlingskrise zu bewältigen wird lange dauern, es wird Kraft und Geld kosten.
Doch Deutschland kann stolz darauf sein, was in den zurückliegenden zwölf Monaten geleistet wurde. Das zeigt, wie stark dieses Land ist. Entscheidend wird sein, wie zuversichtlich und engagiert wir dieser Herausforderung auch weiterhin begegnen. Wir müssen alles daran setzen, es zu schaffen, statt das Scheitern herbeizureden.