«Es ist die ungarische Heuchelei, welche die Stimmung vermiest»

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«Menschenunwürdige Zustände»: Bahnhof in Budapest, September 2015. Bild: Keystone

Der luxemburgische Aussenminister will Ungarn aus der EU werfen. Hat er recht? Die Einschätzung unseres Osteuropa-Korrespondenten Bernhard Odehnal.

Der luxemburgische Aussenminister Jean Asselborn fordert Ungarns Ausschluss aus der EU. Er begründet dies unter anderem damit, dass das osteuropäische Land Flüchtlinge fast wie Tiere behandle. Trifft der Vorwurf zu?
Wie die ungarische Regierung vergangenes Jahr die Flüchtlinge auf dem Budapester Bahnhof festhielt und die Zustände, die dort herrschten – das war tatsächlich menschenunwürdig. Andererseits muss man sagen, dass sich die ungarische Polizei zu dieser Zeit alles in allem sehr korrekt benahm.

Und heute?
Heute ist es anders. Es gibt Berichte serbischer Medien und internationaler Menschenrechtsorganisationen, wonach Flüchtlinge, die es durch den Zaun schafften, von der Polizei gejagt und misshandelt würden.

Kommen überhaupt noch Flüchtlinge nach Ungarn?
Es werden täglich nur sehr wenige Flüchtlinge zum Asylverfahren zugelassen, weshalb es an der serbisch-ungarischen Grenze ein grosses Flüchtlingslager gibt. Daneben versuchen viele, illegal ins Land zu gelangen. Die Schlepper machen dank der ungarischen Flüchtlingspolitik ein hervorragendes Geschäft. Sie schmuggeln Flüchtlinge häufig in Lastwagen. Das erinnert einen an den Kühlwagen, in dem letztes Jahr in Österreich 71 Menschen erstickt sind. Illegal eingereiste Flüchtlinge, die in Ungarn aufgegriffen werden, schickt die Polizei sofort zurück über die Grenze. Diejenigen, die es hingegen schaffen, in ein Asylverfahren zu kommen, werden in geschlossenen Lagern untergebracht. Eines davon befindet sich in Körmend nahe der österreichischen Grenze.

Ergeben sich dadurch bilaterale Probleme zwischen Österreich und Ungarn?
Die Österreicher vermuten, die Ungarn würden heimlich Flüchtlinge aus dem Lager entlassen, damit sie über die Grenze nach Österreich können. Das Interesse der Ungarn besteht darin, möglichst viele Flüchtlinge wieder loszuwerden. Für Tschechien und die Slowakei gilt das allerdings genauso.

Gemäss dem Dublin-Abkommen müsste Ungarn registrierte Asylbewerber, die in einem anderen Land aufgegriffen werden, wieder zurücknehmen.
Das verweigert Ungarn konsequent, was ein weiterer Grund für die Streitereien mit Österreich ist. Österreich hat ja die selbst auferlegte Quote von 37’500 Asylanträgen jährlich. Damit die Quote nicht überschritten wird, müsste es Flüchtlinge nach dem Dublin-Abkommen nach Ungarn zurückschicken. Weil Ungarn zu deren Rücknahme nicht bereit ist, könnten Flüchtlinge im Niemandsland an der ungarisch-österreichischen Grenze gefangen bleiben. Macht Österreich mit seiner Obergrenze Ernst, ist das eine reale Gefahr.

Am 2. Oktober gibt es in Ungarn eine Abstimmung über die Flüchtlingspolitik der Regierung. Worum geht es bei dem Referendum genau?
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban will sich seine Politik, die EU-Verteilquote für Flüchtlinge abzulehnen, von den Wählern bestätigen lassen. Allerdings ist das Referendum nur gültig, wenn mehr als 50 Prozent der Stimmberechtigten daran teilnehmen. Die Opposition hat bereits zum Boykott aufgerufen.

Asselborn kritisiert auch, dass Ungarn immer mehr Grenzzäune errichte.
Ich glaube nicht, dass der Zaun an sich den luxemburgischen Aussenminister und die EU so verärgert. Zäune haben wir woanders auch – in Bulgarien oder zwischen Marokko und der spanischen Stadt Ceuta. Ein Ärgernis ist aus europäischer Sicht vielmehr die Anti-EU-Propaganda, die mit dem Bau der Zäune einhergegangen ist und immer noch einhergeht. Ungarn hat deren Errichtung inszeniert und symbolisch aufgeladen – etwa, indem die Behörden die letzte Lücke des Zauns an der serbischen Grenze durch einen Eisenbahnwaggon geschlossen haben, der mit Stacheldraht umwickelt war. Und dies nachts bei Flutlicht und vor laufenden Fernsehkameras.

Einen mit Stacheldraht umwickelten Eisenbahnwaggon würde ich spontan mit der Deportation in ein KZ assoziieren.
So war das natürlich nicht gemeint. Aber ich würde der Assoziation auch nicht energisch widersprechen. Um auf die Verärgerung der EU zurückzukommen: Ungarn spielt sich als Retter Europas auf, als Land, das den anderen zeigt, wie man richtige Flüchtlingspolitik betreibt. Gleichzeitig hängt es als einer der grössten Nettoempfänger von Subventionen sehr stark am Tropf der EU. Brüssel in Grund und Boden verdammen, aber das Geld aus Brüssel jederzeit gerne in Empfang nehmen – es ist diese ungarische Heuchelei, welche die Stimmung zwischen Ungarn und der EU vermiest hat.

Asselborn kritisiert auch die Einschränkung der Pressefreiheit und die Untergrabung demokratischer Institutionen. Hat er damit recht?
Das System von Checks and Balances ist in Ungarn definitiv aufgehoben. Eigentlich müssten Dutzende Ermittlungen und Korruptionsverfahren gegen Parteifreunde von Viktor Orban laufen, aber dazu ist die gleichgeschaltete Justiz nicht mehr in der Lage.

Und die Pressefreiheit?
Da ist es ein bisschen schwieriger. Die öffentlichen und privaten Fernseh- und Radiosender betreiben fast nur Regierungspropaganda, und kritische Zeitungen werden geschädigt, indem ihnen regierungsnahe Unternehmen Werbeaufträge entziehen. Ausserdem gab es Versuche, NGOs einzuschüchtern. Andererseits gibt es aber sehr kritische, hervorragend recherchierende Internetportale. Kein Journalist muss in Ungarn wegen eines regierungskritischen Artikels ins Gefängnis. Zustände wie in der Türkei oder in Russland herrschen noch nicht.

Muss Ungarn nun aus der EU ausgeschlossen werden oder nicht?
Orban kann sich über solche Forderungen freuen, denn sie bestätigen nur seine Behauptung, dass die ungarische Nation von aussen angegriffen werde und deshalb zusammenstehen müsse. Natürlich unter seiner Führung. Ein Ausschluss Ungarns und selbst die Diskussion darüber wären falsch, weil das alle Ungarn und nicht nur die Regierung treffen würde. Es gibt andere Mittel. Die EU könnte sich beispielsweise jetzt genau überlegen, wen und was sie in Ungarn noch finanzieren will.

(Tages-Anzeiger)

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